kuratorische notizen von Zasha Colah
Der Joker scannt Berlin
Von hoch oben aus winzigen Fenstern in seinem Hauptquartier schmiedet der Joker Pläne, die Weltherrschaft mithilfe von Therapielampen und heilenden Schwingungen zu übernehmen. Aus seiner Vogelperspektive ist alles okay. Ausgelassenheit. Champagner. Liebende. Doch jeder Mensch ist sein eigener erwachender Faust, der mit einem eigenen Mephisto am Ohr im Klartraum die Oranienburger Straße entlangwandelt, vertieft in Verhandlungen über faire Bedingungen. Politiker*innen eilen nach der Sichtung ihrer eigenen „Nase“ besorgt die Straße hinunter und fragen sie höflich, ob sie nicht in ihre Gesichter zurückkehren wolle. Die dunkel bebrillte „Nase“ in langem Mantel und Turnschuhen wimmelt sie mit etwas Kleingeld ab. Lehrer*innen, Arbeiter*innen und Dichter*innen trippeln gehorsam zu ihrem nächsten Gehaltsscheck. Nur wenn sie im Dunkel der Straße aufeinandertreffen, verrät das Weiß in ihren aufgerissenen Augen Hysterie.
Plötzlich knallt ein spitzer Schuh auf den Asphalt. „Dem Aussehen nach war er etwas über vierzig. Der Mund war leicht schief. Das Gesicht glattrasiert. Brünett. Das rechte Auge war schwarz, das linke aber grün. Die Brauen waren schwarz, doch saß die eine höher als die andere. Kurzum – ein Ausländer“. Er passt perfekt ins Bild, die Passant*innen lieben seinen Look. Doch sobald sie ihm begegnen, höhlt eine klaffende Kälte ihr Inneres aus, als wären sie gerade ihres inneren Kompasses beraubt worden. Wie um ihn willkommen zu heißen, stapeln sich in jeder Buchhandlung, die etwas auf sich hält, Bücher über Künstliche Intelligenz (KI). Student*innen entwerfen in Gedanken Vorrichtungen, die, unter die Zunge gelegt, jede Äußerung direkt in eine politisch korrekte verwandeln. Überall in der Stadt verkünden Schilder und Werbebotschaften über Medienkampagnen inmitten von Konzertplakaten: „Dr. Bwanga, der mächtige Ng’aka [Hexendoktor] aus Sambia kommt nach Berlin!“ Dank KI erreicht seine spirituelle Kraft nun die ganze Stadt. Der Hexendoktor wirkt teuflisch, aber Gerüchte über den großen Ball beim Satan, das Fest des Teufels für Dieb*innen und Räuber*innen, locken die Berliner*innen an wie Motten.
Währenddessen tagt in Berlin die erste Internationale Konferenz für Bettler*innen, mit einer Zählung aller „modernen" Bettler*innen, die derzeit weltweit aktiv sind – von den Student*innenblockaden in Serbien über die Streikposten vor der Tesla-Fabrik, das Civil Disobedience Movement in Myanmar, Yo No Coopero Con La Dictadura in Kuba, den Versammlungen der Rentner*innen auf der Plaza de Mayo jeden Mittwoch bis zum Tercer Malón de la Paz in Argentinien –, um goldene Bettler*innenkarten auszustellen. Gleichzeitig findet der allererste Protest auf dem Mars statt. Interplanetarisches Betteln! Überall sieht der Joker gleichgültige Füchse vor dem magentafarbenen Himmel, während die „difficultators“ von Augusto Boal unter den Bewohner*innen für Chaos sorgen.¹
Ansprüche stellen
Groß, schlank, tiefschwarz mit weißer Stirn: Ich sah ein Mithun mit geschwungenen Hörnern Blätter von Bäumen knabbern, während blaugrüner Dunst den Wald ins Dunkel tauchte. Ein Mithun ist ein pferdeähnliches Rind, eine magische Erscheinung in den kühlen, hochgelegenen Gemeinschaftswäldern im Patkai-Gebirge in Indo-Burma. Inmitten der militanten Bestrebungen der Naga-Volksgruppen, von Indien unabhängig zu werden – das zeitweise seine eigenen gemäßigten Vertreter*innen ermordete und neue Ideen für das föderale System ablehnte –, soll der visionäre Naga-Politiker Rungsung Suisa tief in den Wäldern mit einem Mithun gesehen worden sein, das einen Pflug zog. Das war insofern verrückt, als Mithune für ihre mystische Wildheit verehrt werden und keine Arbeitstiere sind. Sie grasen frei in den Wäldern und lassen sich nur mit Salz anlocken, denn das lieben sie. Auch rein praktisch ergab es keinen Sinn, auf Hügeln, die nicht zum Anbau gerodet waren, Furchen in den kargen Boden zwischen den Bäumen zu pflügen. Suisa behauptete jedoch, dass diese das Gebiet der Gemeinschaftswälder markieren würden, falls eines Tages Grenzen um das Indigene Nagaland gezogen werden sollten. Gesetze und die mit ihnen einhergehende absolute Macht für Polizei und Militär führten zur Vernichtung des zivilen Lebens und des Waldlandes. Im heutigen Indien gibt es einen ganzen Wust davon, der sich gegen eine Generation kritischer Denker*innen richtet: das Gesetz gegen Volksverhetzung von 1860 (ein Gesetz aus der Kolonialzeit), das Gesetz über Sondervollmachten des Militärs von 1958 (ursprünglich auch aus der Kolonialzeit, mit der Unabhängigkeit abgeschafft, aber danach wieder eingeführt), das Gesetz zur Verhinderung illegaler Aktivitäten von 1967, das Gesetz zur öffentlichen Sicherheit von 1978, das Nationale Sicherheitsgesetz von 1980, die neue Strafgesetzgebung von 2024 (BNS, BNSS, BSA), das Finanzgesetz von 2025 (mit einem Übermaß an digitaler Kontrolle).
Dieses Gerücht über juristische Beweismittel in Form absurder Furchen, die mit einem Pflug in den Waldboden gezogen wurden, hat mich 20 Jahre lang begleitet. Es hat mein Verständnis von der Rechtmäßigkeit mündlicher Erklärungen oder von Erklärungsabsichten, die mit einer Kennzeichnung einhergehen, geprägt, das heißt, mit dem aufgeladenen Sprechakt, der für zukünftige Empfänger*innen des Zeichens greifbar gemacht wird. In diesem Sinne ist eine Markierung das Fragment eines Lieds, einer Rede, einer Geschichte oder einer Behauptung, das von den Zähnen in der Mundhöhle gehalten wird. Aber Oralität ist mehr als nur der Mund. Auch der Körper fordert etwas. Das Gehen als eine Form des Wissens, das Verschieben von räumlicher Dichte als Akt der Inanspruchnahme: „Wie zeige ich mit unseren Geschichten, dass wir zu diesen Felsen gehören, wie wir uns durch eine Landschaft zu bewegen verstehen, indem wir sie mit Händen und Füßen lesen, mit dem ganzen Körper, wenn wir die Hügel hinabrollen, uns in Löcher oder Höhlen graben oder in die Erde hineinfühlen?“, fragte mich eine Künstlerin in einem Gespräch über soziale Choreografie. Oralität ist greifbares Wissen, wie mit Fäden aus Traumata Geschichten zu knüpfen oder durch jahrhundertlanges Formen von Baumwurzeln lebendige Brücken wachsen zu lassen. Oralität ist zur Flüchtigkeit fähig. Es ist die Oralität, die die noch fehlenden, nicht aufgezeichneten Kunstgeschichten überliefert hat, denn sie ist ein flüchtiges Medium. Der Live-Act vor dem zensierten Film.
Sowohl Gerichte als auch Theater inszenieren die Oralität der Gegenwart. Das ehemalige – mit Löchern übersäte – Gerichtsgebäude ermöglicht eine Untersuchung der Begriffe „Legalität und Illegalität“² , stellt beiden aber den Anspruch von Künstler*innen gegenüber und deren Möglichkeit, eine Aktion oder ein Ready- made als Kunstwerk zu bezeichnen. Einst wurde ein Pissoir als Kunstwerk bezeichnet. Der künstlerische Anspruch unserer Zeit jedoch besteht in der Rettung eines Sees. Karl Liebknechts illegale Rede gegen die Militarisierung, von der nur eine Handvoll Kapitalist*innen weltweit profitiert, wird für die heutige Zeit neu aufgegriffen, in der Konsument*innen angesprochen werden. Jedes Mal wenn wir etwas kaufen, nehmen wir tatsächlich unser Stimmrecht wahr. Diese souveränen Ansprüche erregen den Unmut von Jurist*innen, die darauf bestehen, dass das Recht allein von der Verfassung bestimmt wird. Sind Künstler*innen jetzt souverän, darf alles verkündet werden. Dabei hat die Aura der Kunst in jeder einzelnen Gesellschaft den Schutz der Künste ermöglicht, sei es durch die gesetzliche Festschreibung oder schon vor der schriftlichen Fixierung. Gleichzeitig erinnern uns Jurist*innen daran, dass das Gesetz einige der größten Science-Fiction-Werke beinhaltet, und dass einzig deren Umwandlung in gemeinschaftlich orientierte Gesellschaftsverträge die schiere Gewalt in Schach hält. Kritisches Denken lässt sich zumindest einüben – aber kritische Vorstellungskraft?
foxing
Burleske Gesichter und komische Gesten. Zwei Fliegen unter Blumen, die subtil davor warnen, sich in die*den eigenen Peiniger*in zu verwandeln. Wie leicht man dazu neigt, das zu werden, was man am meisten verabscheut. Wenn der schmerzhafte Körper das Denken aussetzt, reaktiviert es der Humor. Trotziges Lachen im Angesicht der Gewalt kann Bedeutung wiederherstellen und Kanäle der Würde öffnen. Als Teil dieses Prologs verweist uns ein Verhandlungstisch auf die schriftliche Kodifizierung, Rechtsetzung und das Verfassen von Abkommen sowie zurück in eine Zeit, in der die Stadt Berlin als Gastgeberin im Zentrum internationaler Verhandlungen über die Grenzen von Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts stand und die internationale Rechtsordnung in Händen hielt, auch wenn sie von nur einer Handvoll Mächte kontrolliert wurde. In seiner Sichtachse führt eine Treppe auf einen Platz hinunter und stellt eine Behauptung auf: Und zwar, dass diese begehbare Skulptur eine legislative Leerstelle im nationalen Gefüge ist. Ein internationales Gemeingut im Werden, wobei dessen Bausteine nur zu dieser Anordnung als Treppe gehören. Anders als die geworfenen Steine, aufgrund derer Menschen in Gefängnissen auf der ganzen Welt dahinvegetieren, bilden diese Steine eine Brücke vom tiefen Meeresgrund zum dunklen, offenen Himmel, eine Brücke zu einer anderen Voraussetzung des Daseins: „Wenn wohnen bedeutet, fremd zu bleiben.“³
Am anderen Ende dieses Platzes findet sich in Form von Indigomalereien auf Nesseltuch ein vom Wind geschütteltes Gegenmonument eines einzelnen Strommasts, der vormals zu einer Müllhalde in Nagaland verkommen war. Durch gewaltlose Akte nächtlicher Gartenarbeit wird ein Ort der Folter und des Todes mit künstlerischen Mitteln als öffentlicher Raum für die Allgemeinheit zurückerobert. Beide Akte der Umkehrung widriger Umstände trennt ein Abgrund. Auf diesem zentralen Platz passiert man eine Schwelle aus Skulpturen aus Sprache und Stimme, Instrumenten, Ruf und Antwort. In der Mitte steht groß und einsam die Zauberin Mukamusaba. Eine Stimme wiederholt: Mandat, Mandat, Mandat. Als müsste man auf eine gesetzliche, eine moralische Anweisung warten, um zu handeln. Der Anspruch von Künstler*innen ist jedoch stets unautorisiert.
Das flüchtige weitergeben
Das Konzept der Flüchtigkeit meint die kulturelle Fähigkeit eines Kunstwerks, eigene Gesetze im Angesicht gesetzlicher Gewalt aufzustellen. 1987 schrieb Myanmars berühmtester Komiker Zarganar das Stück Beggars’ National Convention. Er führte es mit den Mitgliedern seines Ensembles mehrmals auf, bis sie 1990 unmittelbar nach Verlassen der Bühne in Handschellen abgeführt wurden. In dieser Persiflage auf das Parlament löst die Versammlung der Bettler*innen die gleiche Empörung aus, wie eine Bande von Generälen, die vorgibt, ein Parlament zu führen. Das Publikum war begeistert, zeigte dadurch Zustimmung und begab sich so in Gefahr. Schließlich ging es hier nicht um avantgardistisches Theater, das an bürgerlicher Selbstzufriedenheit rüttelt, sondern um eine gut besuchte Aufführung, in der die Zuschauer*innen zu Gesetzlosen wurden, da sie sich zum Lachen bringen ließen.
Auf diese Weise werden schöpferische Akte oder Werke oft bewahrt, bis sie in die Kunstgeschichte eingehen. Sie werden kurz im Gedächtnis und in der Körpererfahrung gespeichert, während das Publikum sie festhält, weitergibt und umwandelt. Dieser Vorgang der Übertragung beschäftigt mich seit langem in meiner Arbeit: der nicht programmierbare, unvorhersehbare Moment, in dem aus einem Akt der individuellen Vorstellungskraft ein kollektiver wird.
Der Titel der Ausstellung lässt sich daher als Botschaft oder Anweisung an die Empfänger*innen verstehen. Etwas von der flüchtigen, schwelenden Glut entweicht, und die Besucher*innen sind nun Empfänger*innen dieses rotglühenden kulturellen Beweises. Das Publikum muss nun seinerseits flüchtig werden, damit verschwinden, diesen Beweis weitergeben oder versteckt halten, bis er überlieferbar, sagbar ist.
Die Ansprache des Jokers
An alle Gesetzlosen wie mich:
Keine Kunst.
Nur wilde Akte der Fantasie.
Kein öffentliches Programm.
Nur Lebendigkeit: verstohlen, ungezähmt, arm an Ästhetik –
nacktes Leben, das weitergegeben wird.
Dem Ruf nach listig, spitze Schnauze und buschiger Schwanz
wie ein zuckender Schatten, bevor er zu fliehen lernt.
Die Ausstellung ist nicht thematisch.
Sie ist propositional.
Keine Identitätspolitik –
sie holt die Solidarität zurück für all das, was wir nie waren,
eine Gemeinschaft aus Hunger und Halbdunkel,
Fleisch, das lose auf Knochen sitzt.
Keine Repräsentationspolitik.
Sie ist gegen das Monumentale,
gegen jeden Akt kultureller Homogenität.
Sie ist weder anthropologisch noch ethnografisch –
es gibt keine Schaukästen,
sie ist nicht national, nicht einmal postkolonial.
Sie ist irdisch –
sinnliche, windgepeitschte und verbrannte Erde
getränkt mit Regen und Fuchspisse,
an die Ränder von Feldern und Überführungen geheftet.
Die Ausstellung
bewegt sich wie ein Stadtfuchs,
geschmeidig, mit bernsteinfarbenen Augen.
Sie sammelt Objekte der Oralität –
Sprachsplitter,
im Frühlingsgestrüpp verfangene Atemfetzen.
Sie stiehlt Akte der Umwandlung –
das Schimmern des Gewöhnlichen, das zu Ungewöhnlichem wird.
Sie erschwert den Anspruch von Künstler*innen –
zerrt sie zurück in die Dunkelheit.
Sie verlangsamt die Zeit –
jede Sekunde gedehnt wie eine Sehne,
jede Geste von Kälte schwer.
Sie schnuppert an den Rändern,
wartet auf die Stille,
tastet sich vor mit der Geduld der Gejagten,
zeigt sich nur dann, wenn niemand hinschaut –
und selbst dann
nur halb.
Zasha Colah
¹ Dieser Absatz enthält Zitate aus oder lose Verweise auf Nikolai Gogol, Die Nase, 1836, in Petersburger Erzählungen, Stuttgart 2006, S. 5–28; Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita, Frankfurt am Main 1968; Ngũgĩ wa Thiong’o, Der gekreuzigte Teufel, Frankfurt am Main 1988 [1980]; Augusto Boal, Teatro del Oprimido [Theater der Unterdrückten], Buenos Aires 1974.
² Georg Lukács, „Legalität und Illegalität“, 1920, in Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923, S. 217–228.
³ Übersetzter Titel von Margherita Moscardinis Ausstellung If Inhabiting Means Remaining Foreigners,
Ex Elettrofonica, Rom, 2022.