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09.06.–15.06.

Daniella Bastien, *1979 in Mauritius. Orte der Zugehörigkeit: Mauritius, Padova, La Réunion.

☂️ M. M. Thein, *1938 in Pathein, Burma. Orte der Zugehörigkeit: Rangoon.

Steve McQueen, *1969 in London, Großbritannien. Orte der Zugehörigkeit: Amsterdam, London. Buch: Steve McQueen. Bass, 2024.

Im zweiten Stock des Gerichtsgebäudes findet sich im letzten Raum der 13. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst – sofern man dem Rundgang folgt – ein Fenster, verdeckt von wuchernden, dicken grünen Ranken. Pflanzliches Leben und gesprenkeltes Licht durchbrechen die Monotonie der Gänge und labyrinthartigen Räume, die 13 Jahre lang im Gerichtsgebäude mit angeschlossenem Gefängnis im eigenen atomaren weißen Staub gelegen haben.

Drei Werke aus nicht zusammenhängenden Orten und Zeiten treten miteinander in Dialog und bringen die Biennale zu einem Abschluss. Eine kreolische Spoken-Word-Audioarbeit von Daniella Bastien ertönt in regelmäßigen Abständen. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert war Mauritius unbewohnt. Die Insel wurde zu einer Zwischenstation für Sklav*innenschiffe. Der Le Morne Brabant – ein 556 Meter hoher Berg, der sich aus dem Indischen Ozean erhebt – wurde unter der Bezeichnung Maroon Republic bekannt, da seine Gebirgshöhlen und dichten Wälder Flüchtigen Schutz für Enklaven boten. Diese Akte des Widerstands inspirierten Maroon-Siedlungen in anderen Regionen. Wie genau sich die nachfolgende Geschichte zugetragen hat, ist ungewiss, aber eins steht fest: Frauen, Männer und Kinder stürzten sich gemeinsam vom Berg herab, weil sie keinen anderen Fluchtweg sahen, als Offiziere den Berg bestiegen. Bastien bedient sich kreolischer Oralitur, die in Liedern über Generationen hinweg mündlich weitergegeben wurde, und erschafft hieraus ein neues Werk über die Vertreibung – oder den gleichzeitigen Sprung – von möglicherweise Hunderten Maroons. Bastiens Stimme ergründet klanglich den Sprung in die Luft und den tödlichen Sturz der Körper vom Gipfel herab.

Wir wechseln nach Camerhogne, dem Indigenen Namen für Grenada, einem im Atlantik gelegenen Inselstaat. Dort kämpften die bäuerlichen Arawak und die Seefahrt treibenden Karib*innen – nach ihnen ist die Karibik benannt – gegen den Raub und die ethnische Säuberung ihres Landes. Im Jahr 1651 erklommen die letzten noch Widerstand leistenden Familien der Karib*innen die 40 Meter hohe Klippe am nördlichen Ende der Insel. Die heute als Caribs’ Leap bezeichnete Felsklippe markiert den tragischen Ort, von dem aus sich damals 40 Männer, Frauen und Kinder synchron in den Atlantik stürzten. Für die Arbeit auf den Plantagen wurde Grenada anschließend mit Sklav*innen aus Afrika neu besiedelt. Eine Arbeit von Steve McQueen erinnert an diese Geschichte und zeigt in ebendieser Berglandschaft Grenadas fotografierte Blumen. Der Titel der Werkserie, Bounty, verweist auf den historischen Entzug vitaler Kräfte – des Landes und seiner Kosmologien –, aber auch auf die flüchtigen Sklav*innen sowie auf den Tauschhandel und die Belohnung für ihre Wiederergreifung.

Eine aktuellere Geschichte ist in abstrakten Strichen in 44th St. Fallen Heros von ☂️M. M. Thein festgehalten. Die Arbeit stellt den Sprung in die Leere dar – aus dem vierten Stock eines Gebäudes. Vollzogen wird er von fünf Aktivist*innen des Civil Disobedience Movement – es setzte sich 2021 in Myanmar mit Streiks und kreativen Aktionen des Widerstands für einen gewaltfreien Aufstand ein –, um sich der Gefangennahme durch die Militärjunta zu entziehen, die ihr Versteck ausfindig gemacht hatte. Der Akt des Hinausspringens, in Richtung auf etwas hin, erinnert an Yves Kleins berühmte Arbeit Leap Into the Void [Sprung ins Leere, 1960] und ist im wirklichen Leben eine fatale Geste selbst gewählter Freiheit.

In einigen der Kunstwerke und in den historischen Anekdoten des ehemaligen Gefängnisses und Gerichtsgebäudes Lehrter Straße finden sich Beispiele für den Akt des Verlassens von Gebäuden – so etwa durch das Abseilen an verknoteten Bettlaken beim Gefängnisausbruch eines RAF-Mitglieds 1976. Gelegentlich sind es die Kunstwerke selbst, die das Gebäude verlassen können, indem sie in Kompliz*innenschaft mit den Wärter*innen hinausgeschmuggelt werden (Htein Lin, 1998–2004). Man verlässt das Gebäude auch, wie in der tragischen Geschichte von Cemal Kemal Altun in den 1980er Jahren, um damit auszudrücken, dass es genug ist. Altun, fälschlicherweise von der türkischen Regierung des Verrats bezichtigt, wurde vom westdeutschen Justizsystem hintergangen. Anstatt an seiner Anerkennung als Asylberechtigter festzuhalten, beugte es sich dem politischen Druck zur Auslieferung. Bei einer erneuten Anhörung seines Falls nahm sich Altun das Leben, indem er aus dem Fenster eines Berliner Gerichtsgebäudes sprang (Merle Kröger, 2025).

Eine radikale Möglichkeit zur Veränderung der eigenen Lebenssituation ist der Akt der Verweigerung – das Desertieren, das Weggehen, das Sich-Herausnehmen oder das Zurückziehen vom Leben. In Anbetracht dessen, dass für Akte des Verlassens von Gebäuden auch ein Füllfederhalter dienen kann, widmet sich die Berlin Biennale den zahlreichen Möglichkeiten, widrige Umstände unter Nutzung der zur Verfügung stehenden Mittel zu ändern: durch Akte von Humor, der Burleske, der Flüchtigkeit, des freizügigen Gebens oder der Sinnstiftung. Womöglich eine der radikalsten Formen des freizügigen Gebens besteht darin, das Leben für eine andere Person hinzugeben. Dem existenzialistischen Denken folgend, ist unser Leben absurd, können wir doch weder unsere Lebensumstände wählen noch die eigene Geburt. Die Vorstellung, dass uns allein die Entscheidungshoheit über den eigenen Tod bleibt, verleiht dem Akt des Lebens Kraft. Der doppeldeutige Titel von Milica Tomićs Arbeit – Is There Anything in This World You Would Be Ready to Give Your Life For? – scheint nicht nur die Frage danach zu stellen, wofür man sein Leben aufgeben würde, sondern auch, wofür man es hergeben würde.

Sprünge werden aber auch vom Geist ausgeführt, wie etwa bei der utopischen Treppe von Margherita Moscardini. Oder wie es die Künstlerin Memory Biwa erzählt: Als die fliehenden Nama auf der !Garib oder Orange River-Route zu ihrer Heimat zurückblickten, da verwandelten sich ihre Körper in eine namibische Pflanze, die Halbmensch genannt wird. Vielleicht ist ja der äußerste Akt zur Änderung der eigenen Lebenssituation der imaginäre Sprung, um auf diese Weise Schichten von Bedeutung aufzubauen, die uns wieder mit der Erde verbinden. Soll dieser Sprung kollektiv unternommen werden?

Text: Zasha Colah und Valentina Viviani

Daniella Bastien, *1979 in Mauritius. Orte der Zugehörigkeit: Mauritius, Padova, La Réunion.

☂️ M. M. Thein, *1938 in Pathein, Burma. Orte der Zugehörigkeit: Rangoon.

Steve McQueen, *1969 in London, Großbritannien. Orte der Zugehörigkeit: Amsterdam, London. Buch: Steve McQueen. Bass, 2024.