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Was fehlt – Eksik Olan - What's missing

(deutsche Originalversion)

 

Mir geht die Luft aus. Boğuluyorum. I can't breathe.
Meine Freundin Navina stirbt im April 2022 an einem Lungenemphysem. Es heißt, fortwährende Kränkungen schwächen die Lunge. Und sie hat viel geraucht. Ein halbes Leben lang. Vor und hinter der Kamera.
Navina nennt sich selbst ein "Nehru-Kind", bedingungslos säkulär, antikolonial und internationalistisch. Sie stammt aus einer bekannten indischen Familie von Künstler*innen. "Heavy baggage!", sagt sie. Ihre Flucht führt nach Hamburg, das ist 1964, drei Jahre vor meiner Geburt. Navina ist ein flackerndes Licht im Gestrüpp meiner zersplitterten Identität zwischen dem deutschen Norden und einem entfernten indischen Süden.
Jenseits des schwarzen Wassers. Kala Pani.

Unser letztes Telefonat kreist um die Frage, ob ich einen Roman schreiben darf über den dunkelsten Moment ihrer Karriere, über ein verschwundenes Sendeband, über ihr eigenes Verschwinden.
Sie lacht. Es klingt ein wenig bitter.
Go, fictionalize me, darling! 

Am Donnerstag, dem 25. August 1983 kreuzen sich ein einziges Mal die Lebenswege der indischen Journalistin Navina Sundaram und des türkischen Studentenvertreters und Aktivisten Cemal Kemal Altun. Beide leben in der Bundesrepublik Deutschland. Die Begegnung findet in einem Gerichtssaal in West-Berlin statt. Ob der Angeklagte die Journalistin, die mit einem Kamerateam da ist, bewusst wahrnimmt, frage ich mich. Sie ist politische Redakteurin beim NDR, hat sich darum bemüht, über diesen Fall zu berichten. Altun hat offiziell als politisch Verfolgter des türkischen Militärregimes Asyl in der Bundesrepublik erhalten. Trotzdem soll er auf Betreiben des Innenministers Friedrich Zimmermann an die Türkei ausgeliefert werden. Denn die Bundesregierung hat kein Interesse an einem politischen Konflikt mit Ankara. Ein Entwurf ist in Arbeit:
das Gesetz zur befristeten Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern.

Eine Woche später ist Cemal Kemal Altun tot. Er stirbt durch einen Sprung aus dem Fenster des Verwaltungsgerichtes in Berlin. Das Fernsehmagazin "Panorama" berichtet noch am selben Abend darüber. Kurz darauf steht Navina Sundaram am Pranger der Fernsehnation: Rüge durch die Programmdirektion, durch den Rundfunkrat.
Der Grund ist eine 90sekündige, unkommentierte Szene, in der Sundaram der Schwester von Altun, Sultan Dursun, die Nachricht seines Todes überbringt. Menschenverachtung und Sensationsjournalismus! So lautet der Vorwurf.
"Vermerk. Das "Panorama"-Team kam am Dienstag, dem 30.8.83 gegen 15.30 in die Adalbertstraße 85, um mit der Schwester des toten Kemal Altun - Frau Dursun - ein Interview zu führen, in dem sie ihre Reaktion auf den Tod schildern sollte. Bei der Ankunft erklärten bereits anwesende Verwandte und Nachbarn, daß Frau Dursun den Überbringer der schlechten Nachricht "ein Leben lang verachten werde". Nach einem sehr langen Gespräch bot sich dann Navina Sundaram an, Frau Dursun die Nachricht zu übermitteln." 

Ölüm Habercisi.
Todesbotin.
Yaşadığım sürece senden nefret edeceğim.

Wenn ich mir heute diese Szene anschaue, ist mir unwohl. Ich würde Sultan Dursun gern aufsuchen und sie fragen, wie sie diesen Moment erlebt hat. Wie sie die junge Reporterin vom NDR erlebt hat, die plötzlich in ihrem Wohnzimmer stand. Ob sie sich, wie ich, gefragt hat, warum stattdessen niemand vom Gericht, von der Stadt Berlin, von der Bundesregierung gekommen ist. Vielleicht lebt sie immer noch in Berlin-Kreuzberg. Ich bin zwei Jahre nach Altuns Tod hierher gezogen.
Wir könnten Nachbarinnen gewesen sein.

Ich versuche, hinter die Welle der Empörung zu sehen, die über Navina Sundaram hereinbricht. Ich sehe
Zorn. Anger. Öfke.

Zorn, der sich ausbreitet unter den Protestierenden am Abend des 30. August 1983, auf der Trauerfeier eine Woche später, in Berlin, in der ganzen Republik. Zorn, der dazu führt, dass mehr und mehr Menschen ihre Stimme gegen die harte Abschiebepraxis der Regierung erheben.
Ich versuche, den Nachhall dieser Stimmen zu hören.

I can't hear you!
Neredesin?

Was fehlt?
Lautet die Frage am Anfang jeder meiner Geschichten.

Es fehlt ein Studiogespräch, das anlässlich der Fernsehsendung von Navina Sundaram am 30. August 1983 live aufgezeichnet wurde. Navina sagt, in diesem Gespräch wurde sie
aç kurtların önüne atıldığını.
thrown to the wolves.
dem Publikum zum Fraß vorgeworfen.
Das Gespräch wurde zwischen den beiden Filmteilen, die überliefert sind, gesendet. Genau dort, wo heute im Archiv ein schwarzes Loch klafft.

Eksik olan ne?
Eine Spur der Schwestern von Altun und ihrer Familien. In der Adalbertstraße 85 leben sie nicht mehr. Die Gentrifizierung Berlin-Kreuzbergs macht nicht halt vor dieser Straße, die nun nicht mehr an der Mauer endet, sondern mitten ins Zentrum der neuen Berliner Republik führt. In einem Bericht der Berliner Zeitung „Die Morgenpost“ vom 1. September 1983 sind die beiden dort lebenden Schwestern von Altun, Fatma Ipek und Sultan Dursun abgebildet. Sultan Dursun, die Frau aus dem Magazinbeitrag von Sundaram, ist demzufolge im Jahr 1983 43 Jahre alt. Sie wird zum Mädchen, zum wehrlosen Opfer, degradiert und entpolitisiert. Sie kommt nicht zu Wort, nicht in diesem Artikel und auch in keinem anderen.

What's missing?
Die erste politische Journalistin of Colour im deutschen Fernsehen. Zwei Monate nach der Ausstrahlung schlägt Navina Sundaram vor, die Sendung als Anlass für eine Klausurtagung zu nehmen.
Als Punkt 1 benennt sie die Frage nach journalistischer Ethik und zieht dafür einen anderen Beitrag heran. Dieser zeigt für lange Zeit das Bild einer afrikanischen Frau, die auf der Flucht vor dem Hunger in einem Lager versucht, ihr Kind zu stillen. Einer Frau, die keinen Namen hat, kein Recht auf Privatsphäre. Einer Frau, die lediglich dazu dient, die folgende Einblendung mit der Bitte um Spenden zu illustrieren. Sundaram stellt in ihrem Schreiben fest, „dass bei einer Verzweiflung, nämlich in der Sahel-Zone, Einverständnis herrscht, aber bei einer anderen Verzweiflung, in Berlin-Kreuzberg, Grenzen des Anstands erreicht sind.“
Als Punkt 2 der Klausurtagung schlägt sie das Thema journalistische Ehrlichkeit vor. „Wir alle in diesem Beruf bewirken etwas, manipulieren, dirigieren, inszenieren. Wir schreiten ein, verändern und verkaufen das so entstandene Bild als Wirklichkeit. Dieser Anspruch ist zumindest anfechtbar. Hätte ich verschwiegen, daß ich die Überbringerin der Todesnachricht war, die längst von der Behörde hätte überbracht werden müssen, hätte ich erst geschnitten, wo die Schwester Altuns zusammenbricht und im Kommentar gesagt, ganz sachlich-kühl: Das war die Reaktion der Schwester, als sie von dem Tod Altuns erfuhr, glaube ich, wäre die Reaktion halb so scharf gewesen.“
Die Klausurtagung findet niemals statt.
Klausurtagung. 

Navina Sundaram verschwindet nicht, wie Cemal Kemal Altun, von einem Moment auf den anderen, sondern nach und nach: vom Ersten ins Dritte Programm, aus den innenpolitischen Magazinen, darf nur noch über Asien berichten, dann irgendwann gar nicht mehr. Sie kämpft für mehr Diversität in den Medien, hält Vorträge, setzt auf die nächste Generation. Kämpft gegen ihre  eigene Unsichtbarkeit.

I can't see you.
Neredesin?

Eksik olan ne?
Cemal Kemal Altun. Der Bruder, der Student, der politische Aktivist, der Einwanderer in der BRD. Seine Zukunft. In seinem Namen entsteht eine Protestbewegung, werden Lieder geschrieben, wird ein Anschlag verübt, ein Buch wird ihm gewidmet, ein Platz nach ihm benannt, ein Denkmal an der Stelle errichtet, an der er, allein auf einer Wiese zwischen weißen Blumen, gestorben ist. Der Mensch verschwindet hinter seinem eigenen Bild.

What's missing?
Ein Film des bekannten Filmemachers Raoul Peck. Er studiert 1983 an der deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Im Jahr 2017 sagt er rückblickend: „Ich wollte einen Film über den Selbstmord von Kemal Altun drehen. Die Förderung für den Film wurde mit der Begründung abgelehnt, dass ein Bezug zu Deutschland nicht erkennbar sei. Für mich war das eine Art Berufsverbot. Danach habe ich beschlossen wegzugehen.

Was fehlt?
Eine Erzählung, in der dieser Bezug unwiderlegbar hergestellt wird. Der Bezug zwischen einem von staatlichen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland verübten Mord aus politischen Motiven, einer Frau, deren Schmerz darüber nicht zu ertragen war, einem verschwundenen Sendeband, einem Film, der nie gedreht und einer Journalistin, die vor aller Augen unsichtbar wurde.

Als Romanautorin jedoch werde ich mich dem Wunsch widersetzen, jede Lücke zu füllen, in die Vollständigkeit hineinzufiktionalisieren, jede Leerstelle mit einem Bild zu ersetzen. Was bekannt ist, wird abgehakt. Wir müssen die schwarzen Löcher offenhalten, in sie hineinatmen, um nicht zu ersticken.
Um kollektiv zu verstehen,
was fehlt - eksik olan ne - what's missing.

Text: © Merle Kröger 2025