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2013

Nyi Pu Lay fragte eines Tages: „Wie hast du dich gefühlt, als deine Gefängniserinnerungen nicht für den Nationalen Literaturpreis nominiert waren, obwohl sie weithin gelobt wurden?“
„Ich fühlte mich befreit“, erklang meine Stimme mit unerschütterlicher Entschlossenheit.

„Befreit wovon?“ fragte er bedächtig.
„Von einer Last,“ antwortete ich entschlossen, einer Entscheidung, die mich entweder dazu gezwungen hätte, die Auszeichnung anzunehmen oder abzulehnen.“ 
Ein herzliches, warmes Lachen ertönte in der Abenddämmerung. 

Während dieser dreiundzwanzig dunklen Jahre der Angst hatte der Myanmar National Literature Award einen zweifelhaften Ruf. Obwohl die eisernen Ketten der Zensur 2012 gelockert wurden, blieb das Gewicht der Vergangenheit bestehen, und die Menschen waren weiterhin vorsichtig gegenüber Verbindungen zur Macht.

Sein Lächeln zeigte, dass er meine Haltung verstand. Obwohl die Sonne unterging, blühten die Lotusblumen und die Wasserhyazinthen weiter.

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2016

Drei Jahre vergingen, und Nyi Pu Lay verharrte regungslos, obwohl ihm der Lorbeerkranz, der Nationale Literaturpreis, bereits sicher war. Eine fiktive Erzählung über einen Arzt in einer hügeligen Hinterlandregion hatte sein Schreiben mit dem Preis für den besten Roman gekrönt. Diesmal, unter der quasi-zivilen Regierung, waren die Jurymitglieder neu ernannt worden und ihre Hände waren unbefleckt.

Als jedoch ein ehemaliger General auf die Bühne trat, erhoben sich andere, um ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen, während Nyi Pu Lay entschlossen sitzen blieb, um seine Missachtung zu demonstrieren. Dieser Moment blieb im Gedächtnis haften und durchdrang den Raum. Die Lotusblütenblätter leuchteten kühn und kündeten von stillem Widerstand. 

Um wahre Freiheit zu erfahren, braucht es Mut. Manchmal genügt es, einfach zu sein, mit einem kraftvollen, aber freien Ausdruck. Keine zu laute Tat, keine zu auffällige Bewegung. Einfach nur dasitzen, wie Nyi Pu Lay es tat.

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2019

Drei weitere Jahre vergingen wie im Flug, und Nyi Pu Lay und ich standen gemeinsam auf der Bühne des großen Literaturfestivals von Assam, wo Worte ungehindert ihren Tanz vollführten. 

Die Menge bewunderte sein elegantes Auftreten. Auch Schriftstellerkolleginnen und Studentinnen schlossen ihn in ihr Herz. Als das Gespräch jedoch auf die Wunden Myanmars kam – die Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Militär –, sprach ich mit wohlüberlegter Liebenswürdigkeit: „Versöhnung ist unerlässlich, wenngleich eine schwierige Aufgabe.“ Ich war fest davon überzeugt, dass sie erreicht werden könne, wenn alle Parteien aufrichtig und engagiert daran arbeiteten. 

Doch Nyi Pu Lay erklärte mit strengem, unnachgiebigem Blick: „Ich werde diesen Tyrannen niemals vergeben.“

Im Land der grenzenlosen Freiheit Indien und im von einem Hauch von Wandel geprägten Myanmar warf er die Fesseln der „Versöhnung“ ab. Unbeeindruckt von der Notwendigkeit einer eleganten Inszenierung stand er furchtlos und mit schonungsloser Ehrlichkeit zu seiner Unversöhnlichkeit gegenüber den Militärtyrannen.

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2009

Vor zehn Jahren begab sich Nyi Pu Lay auf eine Bootsreise entlang des Ayeyarwady-Flusses. In Der Fluss, unser Ayeyarwady* rezitierte er sein langes episches Gedicht über diesen Fluss, die Lebensader des Landes. 

„Diese Unmenschen haben gierig ausgegraben
Die kostbaren Schätze, die gleichen
dem Herzen in deiner Brust
Dich gnadenlos auszubeuten
Aus reiner Gier, die ihre Wirbelsäule hochkriecht“

Nyi Pu Lay hat mit seinen Worten mutig die Schuldigen für den Niedergang der Nation benannt. 

„Diese Leute werfen den Köder dort aus, wo es Fische gibt
Und waschen ihre Hände rein, wenn es keine gibt
Sie geben anderen nicht den Fang
Noch zeigen sie ihnen den Kniff
Sie würden ohne zu zögern jeden ausbeuten
Ich hoffe, sie verziehen nicht das Gesicht
Wenn sie an der Reihe sind zu leiden“ 

Dieses Gedicht unterstreicht auch, weshalb er ein Jahrzehnt später offen seinen Unwillen bekundete, den unmenschlichen Individuen auf Indiens literarischer Bühne zu vergeben.

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2022

Vor drei Jahren sprach ich mit Nyi Pu Lay in stiller Anteilnahme.
„Ich verstehe deine Bedenken, das Land zu verlassen“, murmelte ich, meine Worte flossen wie ein sanfter Strom. „Auch wenn ich im Augenblick nicht zurückkehren kann, war meine Abreise nie als endgültig gedacht.“

Nyi Pu Lay ließ seinen Worten Zeit, sich wie Lotusblütenblätter bei schwachem Licht zu entfalten.
„Ja, ich verstehe deinen Standpunkt“, sagte er mit nachdenklicher Stimme. „Für mich ist Freiheit eine ferne Erinnerung. Ich möchte mich aber auch nicht im Ausland mit ungewohnten Einschränkungen konfrontiert sehen. Hier, in dieser ‚neuen Normalität‘ – wohlgemerkt nicht wegen COVID-19 –, bleibe ich mit meiner Familie und meinen Liebsten in Verbindung, auch wenn sie weit weg sind. Ich lebe in einer echten virtuellen Welt.“

Der schwache Schein einer batteriebetriebenen Lampe ließ sein Gesicht weicher erscheinen.

„Es fühlt sich natürlich so an, als würde ich in zwei verschiedenen Welten wandeln: In der einen habe ich beide Füße fest auf dem Boden der Realität, in der anderen lebe ich in einer virtuellen Gegenwart. Die Zeitverschiebung zwischen diesen beiden Welten erfordert Wachsamkeit in der einen und Vorsicht in der anderen.
Ich habe meine Erfahrungen mit der Anpassung an meine ‚neue Normalität‘ geteilt.“ 

„Die wahre Herausforderung besteht darin, den Raum mit denen zu teilen, die sich ebenfalls verstecken. Diese Erfahrung des Versteckens erinnert mich an meine Zeit im Gefängnis.“
Er trug einen verblichenen blauen Pullover. Seine schwach beleuchtete Gestalt auf Zoom strahlte die Aura eines politischen Gefangenen aus. Die Schatten der Standhaftigkeit standen ihm in die aufrichtigen Augen geschrieben. 

„Unter freiem Himmel bin ich frei von Fesseln. Aber ohne einen Ort, den ich mein Eigen nennen kann, treibe ich dahin wie eine Wasserhyazinthe. Ich bin fremd, außerirdisch, treibe umher, weil ich mich in einem Zustand der Staatenlosigkeit befinde.“
Das grelle Licht der hellgelben Tischlampe fiel auf meinen weißen Wollpullover, der es einfing. Meine Worte hingen schwer in der gemeinsamen Stille.

Über Messenger schickte er mir eine wunderschöne Skizze eines europäischen Gebäudes, dessen Wände mit Blumen geschmückt waren. Mir kam in den Sinn, dass er mein Geschenk über jemanden erhalten und diese Pinsel und Stifte verwendet hatte, um die Zeichnung anzufertigen. Er bat mich außerdem, ihm einige Stadtfotos aus Europa zu schicken. Obwohl die Blumen in seiner Skizze farbenfroh sind, fehlt in seinem Versteck eine Vase.

Der Lotus jedoch erhebt sich makellos aus schlammigen Gewässern, und die Wasserhyazinthe gedeiht ganz natürlich in wechselhaften Umgebungen.

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2023

„Täuschst du sie? Ich weiß, dass du die Militärjunta austricksen musst, um während deiner Rekonvaleszenz in Sicherheit zu sein. Stimmt’s? Bitte antworte mir.“
Voller Angst schickte ich ihm verwirrt diese Nachricht, nachdem ich die Mitteilung, dass Nyi Pu Lay vor einer Stunde verstorben war, von einem gemeinsamen Freund erhalten hatte.

 Natürlich antwortete er mir nicht. Ein plötzlicher Herzinfarkt hatte ihm den letzten Atemzug geraubt.

„Das Schlimmste ist, wenn gesundheitliche Probleme auftreten. Ich kann nicht in eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus gehen, ohne mich der Gefahr auszusetzen, entdeckt zu werden – wegen Beleidigung des Militärs angeklagt zu sein, bedeutet, dass ich mein Versteck geheim halten muss. Es gibt Momente, in denen die Schmerzen unerträglich sind und ich befürchte, dass ich es nicht überleben werde. Das sind die dunkelsten Zeiten.“ Nach einer geheimen – aber nicht lebensbedrohlichen – Operation berichtete er mir davon ganz offen.

„Um damit fertig zu werden, halte ich mich beschäftigt: Ich verfolge die Nachrichten, zeichne, schreibe Kurzgeschichten, bleibe über soziale Medien mit Freund*innen in Kontakt und nehme natürlich an den Zoom-Treffen unserer PEN-Gruppe mit euch allen teil. Diese Aktivitäten füllen meine Tage.“ Das wurde seine „neue Normalität“. Nach der Operation benötigte er jedoch für seine vollständige Genesung angemessene Pflege. Er wurde in ein anderes Versteck gebracht. Er behielt zwar einige seiner Rituale aus seiner „neuen Normalität“ bei, konnte aber keine Blumenskizzen mehr verschicken. Stattdessen schickte er jeden Morgen Videoclips und Grußbotschaften an alle, die er kannte, darunter auch die Botschaft: „Die Revolution muss siegen.“ 

Ein paar Stunden vor seinem Tod schickte er Charlie Chaplins legendäre Schlussrede aus seinem Film Der große Diktator von 1940 an viele Menschen und an unseren PEN Myanmar-Gruppenchat. In dieser Rede sagte Charlie Chaplin: „Wir denken zu viel und fühlen zu wenig.“ Nyi Pu Lay zeigte tiefe Emotionen und inspirierte die Menschen in seiner Umgebung, ebenso zu empfinden. Nicht nur seine Familie, sondern auch Freundinnen, Verwandte und Kolleginnen äußerten, wie sehr seine Worte ihre Ängste gelindert hatten. Seine strahlenden und sanften Botschaften hinterlassen bei den Menschen ein Gefühl des schweren Verlusts. Einige waren sich seiner stillen Verzweiflung nicht bewusst und sahen nur seine liebevolle Güte. Er zeigte keine Erschütterung, keine Anzeichen von Angst, sondern nur Liebe und Fürsorge für viele Menschen.

Der Lotus erhebt sich makellos aus schlammigen Gewässern.

Was für ein Glück, in deinem letzten Atemzug von denen umgeben zu sein, die du liebst, im Angesicht des Todes?
Aber hier, in der Umarmung der Einsamkeit des Exils, denke ich, dass die Menschen wohl meinen verwesenden Körper an einem abgelegenen Ort finden werden.

Ein friedliches und kraftvolles Lebewohl zu deiner Befreiung, Saya Nyi Pu Lay!
Ich erschauere, als ich diesen leisen Abschied flüstere.
Ich werde versuchen, genau dieses Leben zu leben, bis ich sterbe.

Ma Thida
11.1.2025


* Der Regisseur dieses Dokumentarfilms, Pe Maung Sein, wurde 2022 verhaftet und schwer gefoltert. Als sich sein Gesundheitszustand im Gefängniskrankenhaus erheblich verschlechterte, wurde ihm im August 2024 eine medizinische Haftentlassung gewährt. Drei Tage nach seiner Freilassung verstarb er.